© Ralph Gerstenberg

Wir waren sechzehn und standen vor einer Mauer. Die Mauer hatte ein Gesicht, das wir kannten. Dasselbe Gesicht wie die Wand zu Hause in meinem Zimmer. Wir waren gerade erwachsen geworden. Niemand von uns rechnete damit, älter als dreißig zu werden. Den Zenit hatten wir also schon überschritten.

Ein halbes Jahr zuvor war der Mann mit der Brille, der der Mauer ein Gesicht gab, mit einem 38er Armeerevolver in New York erschossen worden.

In einem kleinen Laden kauften wir Kerzen. Als wir sie anzünden wollten, war das Gesicht verschwunden. Frisches Weiß leuchtete uns von der Mauer entgegen.

Ich dachte an die Soldaten im Zug, die an der Grenze zugestiegen waren. Sie tranken Bier und fragten uns, wohin wir fuhren. Nach Prag? In eurem Alter? Wir verließen das Abteil, um eine zu rauchen. Dürft ihr das schon? Später erfuhren wir, dass die Truppen verbündeter sozialistischer Staaten an der polnischen Grenze zusammengezogen wurden, um die Konterrevolution notfalls niederzuwalzen. Wie in Prag ’68.

Nach zwei Tagen hatte die Mauer wieder ein Gesicht. Daneben, darunter, darüber Worte und Sätze, eilig in den Putz gekratzt, mit schwarzer Farbe hastig notiert: „Power to the people“, „Revolution“, „Solidarnosc“. Wir kamen nicht dazu, unsere Kerzen zu entzünden. Polizisten verscheuchten uns, drohten mit Verhaftung. In der Nacht wollten wir zurückkehren. Aber wir verschliefen unsere Kerzenrevolte. Vielleicht hatten wir einfach Angst.

Dreißig Jahre später, Mauern fielen, Revolutionen verliefen samten, Lech Walesa ist aus der Solidarnosc ausgetreten; Lennons Mauer in Prag steht jedoch noch immer. Sie ist bunt wie die Werbetafeln im Stadtzentrum. Jemand singt zur Gitarre. Touristen fotografieren. Teenager lachen. Die Kerze, die wir mitgebracht haben, bleibt in der Tasche.